Titel: Betriebssystem Kunst, 1994
von ANNE RORIMER · S. 136


KUNSTFORUM International
Allan McCollum: Systeme
ästhetischer und
(Massen-)Produktion



Von Anne Rorimer


Allan McCollum, Plaster Surrogates, 1982/88

Seit Allan McCollum 1977 den Schwerpunkt seiner künstlerischen Arbeit, die er 1969 begann, verlagert hat, setzt er sich mit der Funktion des Kunstwerks innerhalb des Gesellschaftssystems auseinander. „Wenn man Kunst verstehen will“, so McCollum, „sollte man, so scheint mir, bei der Situation beginnen, in der man ihr tatsächlich begegnet.“1 Zu diesem Zweck hat der Künstler eine Serie verschiedener Arbeiten entwickelt, deren Abhängigkeit von bestimmten vom Künstler geschaffenen Systemen ein Licht auf den Status der Kunst in der zeitgenössischen Kultur wirft. Obwohl Mittel und Emphase zwangsläufig von Serie zu Serie variieren, lenken Arbeiten wie „Surrogates“, „Perpetual Photos“, „Perfect Vehicles“ und „Individual Works“ – entstanden vor den neunziger Jahren – die Aufmerksamkeit auf den Stellenwert der Kunst als in der Gesellschaft ökonomisch und psychologisch und nicht nur rein physisch präsent.

Eine kleine quadratische Arbeit („Untitled“, 1977, 210 x 210 cm) aus Holz mit einer Acrylschicht in gebrochenem Weiß markiert den Punkt, an dem McCollum sich von seiner früheren Malerei verabschiedet und sich einem neuen Themenkreis zuwendet. Diese überleitende Arbeit unterscheidet sich von den vorhergehenden durch die einfache Darstellung ihrer gemalten Fläche als primäres und singuläres Faktum. Bemerkenswert ist überdies, daß der Rahmen der Arbeit eine Fortsetzung der gemalten Fläche darstellt, und zwar aufgrund eines schmalen, ca. einen Zentimeter tiefen Einschnitts, der nahe an der Kante und parallel mit ihr verläuft. Wie bei den folgenden „Surrogate Paintings“ in Holz – 1978 zunächst als individuell kolorierte Monochrome konzipiert und 1979 als bildliche Darstellungen mattierter und gerahmter Objekte mit schwarzer Mitte – und bei den gegossenen „Plaster Surrogates“ (1982) verbinden sich der umgebende Bilderrahmen und die darin eingeschlossene bildliche Darstellung zu ein und demselben Bildfeld. Obwohl keine zwei Arbeiten je identisch sind, repräsentiert jedes „Surrogate“ das gleiche selbstbezügliche Image eines typischen Gemäldes und liefert damit das, worauf McCollum von Anbeginn an mit dieser Serie abzielt: „ein universelles Zeichen für ein Gemälde“.2 Weiterhin sagt er dazu:

„Jede erdenkliche Beschreibung eines Gemäldes zur Definition seines Wesens oder seiner ‚Gesetzmäßigkeiten‛ könnte immer auch zur Definition eines anderen, ähnlichen Objekts dienen, das kein Gemälde ist – bis auf eine Ausnahme: Ein Gemälde besitzt immer die Identität eines Gemäldes; ein Gemälde ist, was es ist, weil das eine Konvention ist. Es existiert, eben weil die Kultur einen Platz dafür schafft. Als Definition wäre das natürlich so, als würde man sagen: ‚Ein Gemälde ist etwas, das sich häufig über der Couch befindet‛, und es war eben genau diese nüchterne Definition, die mir in dieser ganzen formalistischen Debatte fehlte. Die ‚Gesetzmäßigkeiten‛ der Malerei sind Gesetzmäßigkeiten der Welt schlechthin! Ein Kunstwerk steht in Zusammenhang mit jedem anderen Objekt oder Ereignis innerhalb des Kultursystems, und die Bedeutung eines Kunstwerks liegt vor allem in der Rolle, die es in der Kultur spielt.“3

Da ihr eigentlicher Gehalt in der Darstellung ihrer selbst liegt, erweisen sich die „Surrogates“ als Gemälde im verallgemeinerten Sinn. Als solche lassen sie sich betrachten in Relation zu dem Wie der Auffassung vom Gemälde – im Gegensatz zu dem, was es darstellt – innerhalb des derzeitigen kulturellen Kontextes.

Die „Surrogates“ lassen sich einzeln hängen oder in kleinen oder größeren Gruppen, je nach der Situation, wie sie sich aus den jeweiligen Gepflogenheiten der Hängung in privater Umgebung, im Museum oder in einer Einzelausstellung ergibt. Hinsichtlich möglicher Kombi- nationen von Größe und Farbe ist in dieser Serie keine Arbeit mit einer anderen identisch. Eher kleinformatig und von ein wenig rauher Oberfläche, weisen sie nach wie vor das Charakteristische des handgemalten Bildes auf und wirken dabei dennoch wie maschinell produziert. Sie sehen zwar alle gleich aus, erfüllen jedoch zugleich den traditionellen Anspruch der Einzigartigkeit eines Kunstwerks. Auf diese Weise vermögen die „Surrogates“ – wie der Titel schon andeutet – die Rolle von Gemälden zu spielen. Eines abstrakten oder figurativen referentiellen Gehalts beraubt und somit scheinbar inhaltslos, stellen sie die zahlreichen Verwendungen von Kunst in der Gesellschaft in den Vordergrund – sei es als dekoratives Element, als Handelsobjekt, Statussymbol oder als Objekt von ideellem Wert – und verweisen damit auf die ganze Palette ihrer möglichen Funktionen.


Allan McCollum, Perpetual Photos, 1982/88

Die „Perpetual Photos“ (1982 und später), erstmals 1984 ausgestellt, erhöhen noch den Bedeutungsgehalt der „Surrogates“. Statt unmittelbar eine gemalte Darstellung eines Gemäldes zu schaffen, wie im Fall der „Surrogates“, stellt McCollum diesmal Photographien her, Vergrößerungen von winzig kleinen und nicht zu erkennenden Bildern von Gemälden, wie sie beispielsweise bei Fernsehfilmen im Hintergrund zu sehen sind. Die sich dabei ergebenden Bilder lassen nicht erkennen, wie das Original aussieht; vielmehr besitzen sie als verschwommene Abstraktionen ihre Eigenständigkeit, abgeleitet aus Medien, wo Gemälde eindeutig einem größeren Szenarium untergeordnet sind. Der Künstler erklärt dazu: „Wenn ich diese kleinen bedeutungslosen Flecke auf Originalgröße vergrößere – auf die Größe eines Bildes etwa, wie wir es uns vielleicht ins Wohnzimmer hängen – dann ist da nichts, nur der Geist eines Kunstwerks, der Geist eines Inhalts.“4 Diese geisterhaften Bilder sollen den Betrachter heimsuchen, insofern als sie „die Suche nach dem Sinngehalt eines Kunstwerks nachahmen“.5 Die Abwesenheit eines spezifischen Inhalts (woraus ihr eigentlicher Inhalt besteht) soll den Betrachter dazu bringen, über die Bedeutung von Inhalt ganz allgemein und über dessen ständige Erneuerung nachzudenken.



Allan McCollum, Perfect Vehicles, 1985/88

Wie die „Surrogates“ und die „Perpetual Photos“ sind auch die „Perfect Vehicles“ aus dem Jahre 1985 (großformatige Version 1988) eines spezifischen Inhalts beraubt worden, um sie als der Kategorie Kunst zugehörige Objekte erscheinen zu lassen. Die „Vehicles“ sind massive Gipsabgüsse und unterscheiden sich voneinander nur durch ihre Farbe. Von McCollum modelliert nach einem in der Antike in China sehr gebräuchlichen Ingwergefäß, wie es jahrhundertelang in großer Zahl hergestellt und kopiert wurde, repräsentieren sie die generalisierte Abstraktion einer Vasenform, nur ohne die charakteristische Höhlung.6 Ihre Gestalt weist männliche und zugleich weibliche Züge auf7, erinnert sowohl an die Form einer Gebärmutter als an die eines Grabes, womit sie die stilistischen Grenzen früherer und heutiger Gestaltungsobjekte überschreiten. Sie verkörpern vielfältige Assoziationen, von antiken Gefäßen wie Graburnen bis hin zu heutigen Haushaltskaraffen in modernem Design. Die „Vehicles“ sind einzeln auf Sockeln stehend in Gruppen angeordnet oder dominieren den Ausstellungsraum wie überlebensgroße Statuen – Embleme ihrer eigenen Unbrauchbarkeit als zu Kunst verarbeitete Vasen. Vom Wunschdenken beseelt, sagt McCollum in einem ironischen Text zu diesen Arbeiten, zugleich eine rhetorische Frage stellend:


„Ich schließe die Möglichkeit des Rückgriffs auf den Nutzen absolut aus und beabsichtige damit, das symbolische Potential der Vehicles in die Nähe absoluter Bedeutung, absoluten Wertes, zu rücken. Mein Ziel ist, das vollkommendste Kunstwerk zu schaffen, das möglich ist ... Ist es denn nicht meine Rolle als Künstler, jenen psychischen überschwang zu reproduzieren – und nach Belieben zu wiederholen –, der mit dem unwiederholbaren und absolut einzigartigen zeitlosen Moment verbunden ist, in dem einfach alles andere dahinschwindet?“8


Bei den „Vehicles“ geht es um den Begriff des transzendenten, zeitlosen Kunstwerks. Ebenso wie die „Surrogates“ und die „Photos“ stehen sie da als neutrale Zeichen, die farbenfroh, blankpoliert und geistreich auf ihre eigene Leere als Vasen verweisen. Paradoxerweise erhalten sie durch ihre Leere als Vasen eine gewichtige Bedeutung als funktionslose Objekte, die nichtsdestoweniger eine bedeutungstragende Funktion haben. Kurz, sie verweisen auf sich selbst als symbolische Objekte, die, von besonderer Stellung und Klassifikation als Kunst innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung, automatisch die Erwartung von Inhalt signalisieren und den Wunsch nach Widerhall wachrufen.



Allan McCollum, Individual Works, 1987/88.

Mit seiner neueren Serie, den „Individual Works“ (1987-89), und ihrer Anspielung auf kleinformatige symbolische Sammlerstücke oder Nippesfiguren setzt McCollum seine ästhetischen Untersuchungen fort. Die Serie, die als zusammenhängendes Ganzes existiert und die Möglichkeit künftiger Umsetzungen birgt, besteht aus zwei Teilen, einem türkisblauen und einem lachsrosafarbenen. Diese raumfüllenden Schaustücke bestehen jeweils aus über 10000 kleinen, handlichen Objekten von annähernd gleicher Größe. In den letzten Ausstellungen wurden diese „individuellen Werke“ dicht nebeneinander auf einem einzigen tischartigen Sockel von nahezu 50 Quadratmetern plaziert. Jedes einzelne Objekt besteht aus einer anderen Kombination jeweils einer oberen und einer unteren Abgußhälfte von ca. 150 verschiedenen Haushaltsgegenständen oder Teilen davon. Kein Objekt ist genau wie das andere, und doch erzeugten die schiere Vielfalt und scheinbare ähnlichkeit den Gesamteindruck von Massenproduktion. Auf diese Weise durchbrechen diese Arbeiten die etablierte Unterteilung in hohe und niedere Kunst oder künstlerische und nichtkünstlerische Produktionsformen. Zum Projekt der „Individual Works“ bemerkt McCollum:


„... die Arbeit verweist auf das, was bei der Gegenüberstellung von künstlerischer und industrieller Produktion verlorengegangen ist, der kulturelle Tropus für das Unikat im Gegensatz zum Gebrauchsartikel, für das Unersetzliche im Gegensatz zum Alltäglichen: die psychologische Untermauerung des Klassensystems, wie es sich durch unsere Art und Weise, Dinge zu produzieren, vermittelt. In dieser Arbeit geht es um die unnötige und willkürlich erzeugte Dichotomie, an die zu glauben offenbar uns allen ein Bedürfnis ist ...“9


Indem er die künstlerische Produktion in die unmittelbare Nähe der industriellen Massenproduktion rückt, sucht Allan McCollum mit seiner Arbeit die restriktiven Barrieren zu überwinden, die eine größere Zugänglichkeit der Kunst tendenziell verhindern. Im Unterschied zu anderen Künstlern, die sich mit dem Verhältnis von Kunst und industriell erzeugten, nichtkünstlerischen oder kommerziellen Gegenständen des täglichen Gebrauchs befassen, geht es McCollum um grundsätzliche überlegungen hinsichtlich der Einmaligkeit als selbstverständlicher Voraussetzung der Kunst, sei es, daß es sich bei dem Werk um das Pissoirbecken von Duchamp oder um Andy Warhols „Campbell soup cans“ handelt. Durch die enge Verbindung des einmaligen und kostbaren Objekts mit dem allgegenwärtigen und gewöhnlichen Objekt stellt er die unausgesprochene Fähigkeit der Kunst heraus, als Objekt der Begierde zu fungieren, das sich, historisch betrachtet, immer in den Händen einiger weniger befand. Sämtliche Arbeiten in den vier hier besprochenen Serien von McCollum hinterfragen im weitergefaßten gesellschaftlichen Rahmen ihre eigene Rolle als Objekte, deren ökonomischer und psychologischer Stellenwert in der Kultur in der Regel verschwiegen oder zumindest nicht offen dargelegt wird.

McCollum trachtet mit seinem utopisch motivierten Werk danach, die von Geschichte und Kultur diktierten Voraussetzungen für die Einmaligkeit zu eliminieren, die einen künstlichen (unnatürlichen) Beitrag zum Wert eines Kunstobjekts leisten. McCollums vor 1977 entstandene Gemälde waren Ausdruck seiner Suche nach Methoden der seriellen Anordnung mittels der Reflexion über ihre Entstehungsweise, während seine späteren Serien manifestieren, wie Massenproduktion und ästhetische Produktion in ein Kunstwerk mit eingehen können, ohne daß sein Wert dadurch gemindert wird. McCollums Arbeiten fungieren als Kunst wie auch als auf sich selbst verweisende Zeichen für Kunst und stellen ihre Eigenart als Objekte reiner Begierde in den Vordergrund, ohne Festlegung definitiver referentieller Grenzen.

Chicago, Februar 1993

Obiger Text ist eine Zusammenfassung des englischen Textes im Katalog zur Ausstellung Allan McCollum, die 1989 im Van-Abbe-Museum in Eindhoven stattfand.

Übersetzung aus dem Englischen von Regina von Beckerath.

ANMERKUNGEN
1 Allan McCollum, zitiert in: Gray Watson, Allan McCollum interviewed by Gray Watson, Artscribe (Dezember/Januar 1985/86), S. 67.
2 McCollum, zitiert in: D.A. Robbins, An Interview with Allan McCollum. Arts Magazine (Oktober 1985), S. 40.
3 Ibid., S. 41.
4 Ibid., S. 44.
5 Ibid.
6 Die Idee, die „Vehicles“ auf der Form des Ingwergefäßes basieren zu lassen, entstand aus einer Reihe von Studien zu Vasenformen, die McCollum 1980 begann.
7 Siehe John Miller, What You Don't See is What You Get: Allan McCollum's Surrogates, Perpetual Photos and Perfect Vehicles, Artscribe (Januar/Februar 1987), 32-36.
8 McCollum, Perfect Vehicles, in: DAMAGED GOODS: Desire and the Economy of the Art Object (New York, The New Museum of Contemporary Art, 1966), S. 11.
9 McCollum, zitiert in: Ulrich Wilmes, Works 1978-1988, Allan McCollum (Köln, Verlag der Buchhandlung Walter König, 1988/89), S. 59. Katalog einer Ausstellung im Portikus, Frankfurt am Main, und De Appel, Amsterdam.